Nicht daß ich so viel zum Verfall beigetragen habe

»Jetzt fehlt es mir an den Geheimnissen der Palingenesie, das unsere Geschichtsschreiber in ihrer Gewalt haben, aus der Asche jedes gegebenen Menschen und gemeinen Wesens eine geistige Gestalt heraus zu ziehen, die man einen Charakter oder ein historisches Gemälde nennt.« Wenn ich dieses Geheimnis hätte, könnte ich aus diesen herumliegenden Dingen und herumhängenden Menschen gleich das große Ganze machen, DIE Story, auf die die Leser dieses Blogs nun schon seit zirka zweiunddreißig Stunden warten: DIE Story über diese Stadt. Da ich dieses Geheimnis nicht habe, versuche ich, mir andere anzueignen.
Zum Beispiel: Gibt es in der Art und Weise, in der die russischen Poeten, die wir heute Abend hörten [und ich verstand kein einziges Wort, ich konnte nur das hören, was unterhalb der Wörter blieb, und ich konnte die Gesichtsausdrücke sehen, die Atemtechniken mit angehaltenem Atem registrieren und vergleichen], ihre Texte vortragen, etwas, das man als schamanisch bezeichnen könnte? Keine Ahnung. Doch. Aber eben nur eine Ahnung.
Unterdessen entläßt mich diese Stadt [nennen wir sie an dieser Stelle ab jetzt: Hamann City] am Abend mit der Frage, die sie sich vielleicht selbst am meisten stellt [hier mit den Stimmen der 90er-Jahre-Sit Com Blossom]:
- You have to show people how you are inside.
- Sure. But what when I go outside?

Vulkane und Farne

Wir sind hier so beschäftigt, daß wir zum Schreiben überhaupt nicht kommen. Kants Geburtstag haben wir verpaßt. Die Blumen am Kantgrab, in preußischer Ordnung aufgereiht, beginnen schon zu welken. Nur einer hat heute offenbar noch ein Gesteck nachgeschoben, es liegt knapp hinter der Umgitterung, und bis zu Kant fehlen ein paar Meter, aber dafür ist es noch frisch. Erstaunlich, wie sorgsam Kant hier abgeriegelt ist, während die Stadt ansonsten mit Kantbildern überschwemmt, mit Kantmusterung überzogen scheint. Auf dem Weg zu Kant: Fahnenstangen, als Palmen getarnt. Aber warum ausgerechnet mit rosa Stamm? Wir haben in einem Restaurant gegessen, in dem neben sibirischen Fischen, Moosbeeren und Milchpilzen auch Farn einen Bestandteil der Speisekarte bildet. Warum ißt man in Deutschland keinen Farn? Morgens gab sich der entzückende Nachbarhund so bärig wie möglich. Abends zeigte uns Warja aus Kamtschatka Fotos von den Bären und Vulkanen ihrer Nachbarschaft. Die Studenten kommen aus den entferntesten und abgelegensten Gegenden Rußlands, sind sich aber darin einig, daß K. eine besonders inspirierende Stadt ist. Gibt es in der Rominter Heide eigentlich Bären?

P.S.

Jetzt bleibt mir nun nichts mehr zu berichten!* Außer einer kleinen Korrektur: die Geräusche der Wasserbehälter waren fantastisch und trugen durch ihre metallenen Hohlklänge dazu bei, dass ein mittelalterliches dolby-surround entstand, in dem der Rauch, verkohlte Stümpfe und herum liegende Stofffetzen suggerierten, es hätte gerade erst die Horde grausamer Ritter das Schlachtfeld der abgebrannten Feindesburg verlassen, die Burgfrau irgendwo im Kerker zurücklassend (in dem tatsächlich Köpfe lagen).

Ach so, und vielleicht noch eines, wie der Tag endete, ein klassisch russischer Tisch: Wurst, Fisch, Bier, Wodka, zwei Schriftsteller im Anzug. “Kommt schnell, bevor sie  betrunken sind”! Ab dem dritten Wässerchen wird rezitiert. Und wie. Russisch bleibt die Sprache der Poesie. Dann wird der Abend zunehmend “deutsch”. Die Freunde Kants erscheinen, die darauf pochen, auch Freunde Hamanns zu sein. Geschichten von der alten Stadt, vom Krieg, leibhaftig erlebt. Die das erzählt, ist so fröhlich dabei, dass man auch über die schrecklichen Aspekte unbefangen reden kann.
Und dass ich es mir erlauben kann, aus meiner so ganz anderen, glimpflicheren Biographie zu erzählen. Von dem Gang der Zeit und dass ich, in Berlin die Kastanienallee entlang gehend, wo ich 15 Jahre lebte, nichts mehr wieder erkenne, Geschäfte nicht und nicht die Menschen. Dennoch: es muss seltsam sein, wenn dort, wo man aufwuchs, nun eine ganz andere Sprache gesprochen wird. Und, ergänzen wir übereinstimmend: es wird Momente geben, wo es den Kaliningradern nicht leicht fällt, mit so viel historischem Gepäck einher zu gehen. Orte, die alle einen anderen Namen trugen vor nicht allzu langer Zeit.

Ein bisschen viel auf einmal? Angekommen, nein, schon mittendrin.

Der Ton zum Bild: Burg

 

23. April 2013          25. April 2013